Bei diesem Stück handelt es sich um eine elektronische Komposition basierend auf kardiologischen Daten meiner medizinischen Dissertation und ist als grundsätzliche Kritik an Score-Systemen zur Diagnose- und Therapiefindung im klinischen Alltag gedacht. Aufgrund zunehmenden Zeit- und Kostendrucks werden Patienten zunehmend mittels einfacher Punktesysteme klassifiziert; je nach Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen etc. ergibt sich ein bestimmter numerischer Wert, der in eine Diagnosestellung oder Therapieentscheidung mündet, ohne dass ein persönlicher Patientenkontakt nötig ist.
Neben der Belastung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient soll vor allem auf den Umstand aufmerksam gemacht werden, dass nach diesem Verfahren keine fließenden Übergänge möglich sind; die Einschätzung zwei sehr ähnlicher Patienten, die sich nur um einen Punkt unterscheiden, kann unter Umständen zu sehr unterschiedlichen Resultaten führen.
Als anschauliches Beispiel kann der sogenannte „CHA2DS2-VASc“-Score gelten, nach welchem die Notwendigkeit einer Antikoagulation bei Vorhofflimmern (eine weit verbreitete Herzrhythmusstörung) berechnet werden kann.
Er beinhaltet folgende Parameter:
Congestive heart failure (1 Punkt), Hypertension (1 Punkt), Age (> 75 = 2 Punkte), Diabetes mellitus (1 Punkt), Stroke/TIA (2 Punkte), Vascular disease (1 Punkt), Age: 65-74 (1 Punkt), Sex category: Frauen (1 Punkt).
Bei Erreichen von mindestens zwei Punkten wird eine orale Antikoagulation empfohlen, alternativ bei nur einem Punkt kann Acetylsalicylsäure (ASS) verwendet werden; bei 0 Punkten ist eine Antikoagulation obsolet.
Zur Abschätzung des Blutungsrisikos unter antikoagulativer Therapie wird der „HAS-BLED“-Score verwendet, dieser ist ebenso speziell für Patienten mit Vorhofflimmern konzipiert und vergibt für folgende Parameter jeweils einen Punkt: Hypertonie, abnormale Nieren-/Leberfunktion, Schlaganfall in der Anamnese, Blutung in der Anamnese, labile INR-Einstellung, Alter ≥ 65 (elderly), Medikamente/Alkohol (drugs). Eine Gesamtpunktzahl größer/gleich drei weist auf ein erhöhtes Blutungsrisiko hin.
Es ist offensichtlich, dass die Berechnung dieser numerischen Werte nur zu einer kategorialen, jedoch nicht individuellen Einordnung führen kann, Überschneidungen und Überlappungen sowie Zwischenwerte sind demnach nicht möglich, lebensbedrohliche Komplikationen wie Schlaganfälle oder Hirnblutungen sind möglich.
Abbildung 1: Vorhofflimmern im EKG
Instrumentengruppen und Parameter im MIDI-System
Das Midi-System, eine mehrere Jahrzehnte alte Schnittstelle zur Klangerzeugung am Computer, ordnet maximal 127 Instrumente in definierte Gruppen und weist ihnen numerische Werte zu. Auch hier gibt es keine sich überschneidenden Bereiche.
Abbildung 2: MIDI-Instrumente
So wird beispielsweise mit der Zahl 23 ein Instrument aus der Gruppe der Orgeln bezeichnet, während die Zahl 24 für eine akustische Gitarre steht. Obwohl diese beiden numerischen Werte direkt nebeneinander liegen, entstammen sie zwei verschiedenen Gruppen und stehen daher für sehr verschiedene Klänge. Weitere Parameter wie Lautstärke und Tondauer eines Tones können durch entsprechende Zahlen definiert werden.
Aufbau des Stücks
Das Konzept der Komposition besteht aus der Aneinanderreihung von 160 (Probandenzahl der Dissertation) MIDI-Klangereignissen, die jeweils auf kardiologischen Daten einer einzelnen Person beruhen.
Abbildung 3: Ausschnitt aus der Patiententabelle
Es entsteht eine serielle Reihe, wobei das Patientenalter für die Klangfarbe aus der MIDI-Instrumententabelle kodiert. Die Tondauer in ms berechnet sich aus der Herzfrequenz in Relation zum Sekundentakt (60:Herzfrequenz), eine Herzfrequenz von 60 bpm ergibt beispielsweise eine Tondauer von genau einer Sekunde. Die Tonhöhe ergibt sich aus dem Körpergewicht, die Lautstärke aus der Dauer des QRS-Komplexes (ein EKG-Parameter, in ms).
Die Zahlenwerte sind bis auf die Tondauer dimensionslos.
Es ergibt sich eine Abfolge unabhängiger und im Ergebnis sehr verschiedener Klänge, deren Berechungsparameter sich jedoch zum Teil nur minimal unterscheiden.
Die technische Umsetzung erfolgte als Kommandozeilenprogramm in C++.
Abbildung 4: Ausschnitt aus dem Programmcode
Ganz bewusst wurde darauf verzichtet, das Konzept auf reale Instrumente zu übertragen. Der Klang des MIDI-Systems sowie die programmiertechnische Umsetzung wecken Erinnerungen an einfache elektronische Geräte, Videospiele und die Frühzeit der Computertechnik, in der man mit sehr begrenzten Mitteln operierte; was die trügerische Trivialität der oben beschriebenen Score-Systeme vor dem Hintergrund einer hochtechnisierten und sich entwickelnden Medizin treffend karikiert.
Abbildung 5: Ablaufplan der Komposition, auf der X-Achse sind die Klangereignisse chronologisch aufgetragen
Abbildung 6: Tondauern in Sekunden umgerechnet