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Persönliche Überlegungen zum Thema "Ästhetik"

Das Wort „Ästhetik“ bezeichnet, meines Wissens nach, zunächst einen Teilaspekt der Philosophie, nämlich die „Lehre der Schönheit“ , verbunden mit Begrifflichkeiten wie „geschmackvoll“ oder „ansprechend“. Aus dieser Definition heraus wird häufig die Wirkung ästhetischer Gesichtspunkte auf den Menschen selbst herausgestellt. Im Folgenden sollen Überlegungen zur Ästhetik behandelt und mit meiner subjektiven Erfahrung verglichen werden; um folgerichtig auch Bezüge zur Musik herzustellen.

Im alltäglichen Gebrauch, etwas abseits von oben erwähnten Aspekten, entsteht für mich ein ästhetischer Kontext vor allem durch das Vorhandensein von Symmetrien; ob sich dieses ordnende Prinzip zwangsläufig irgendeiner Art von Schönheit unterordnet ist tatsächlich eine Frage, die ich mir bisher nicht konkret gestellt habe bzw. stellen musste. In der aktuellen Medienlandschaft, nicht zuletzt durch den unbegrenzten Zugriff auf Informationen und Bilder mittels des Internets, zeigt sich häufig, welche Faszination von Thematiken ausgehen kann, mit deren Beschäftigung wir uns sonst eher scheuen würden, bzw. welche sogar mit einer Art von Schamhaftigkeit versehen sein können. Anatomische Darstellungen, die das Innere des Körpers offerieren, mögen teils sogar Ekel erzeugen, sprechen jedoch auch auf eine besondere Art und Weise an, wenn das Arrangement und die Umgebung passen. So mag beispielsweise die unzensierte Darstellung der Nahaufnahme eines geöffneten Bauches ohne einen logischen Bezugspunkt abstoßend wirken, setzt man diese jedoch in eine angemessene Szenerie einer ordnenden Umgebung, z.B. in einen Pathologiesaal, sind wir in der Lage, eine andere Interpretation vorzunehmen, die den umgebenden Raum als ordnendes Prinzip anerkennt und einen Kontext konstruiert, aus dem heraus eine sachlichere und reflektiertere Bewertung erfolgen kann. Wie hierbei gut zu erkennen ist, entsteht ein Empfinden von Ordnung bzw. Ästhetik alleine aus der Beziehung beteiligter Elemente; ob das Erleben von Schönheit immer unterbewusst daran gebunden ist oder davon losgelöst entstehen kann, verbleibt als offene Frage.

Im 20. Jahrhundert kam es in verschiedenen Musikrichtungen zur Etablierung des „Geräusches“ mit dem Ziel, als gleichrangiges Sujet gegenüber bewusst komponierter Melodien bzw. auch Harmonien zu gelten. Wenn einerseits sicherlich der Zeitgeist zu einer Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Strömungen geführt hat, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass bis heute ein Ungleichgewicht herrscht, so sind Melodien in den meisten Musikrichtungen deutlich überrepräsentiert, geräuschhaft-perkussive Anteile finden sich eher in begleitender Funktion. Bei genauer Analyse findet sich hierbei eine Bestätigung der oben beschriebenen Umstände: Die Tonqualität eines auf klassischer Harmonik beruhenden Klangereignisses bietet uns gewohnte Wege zur Interpretation; die in einem gewissen Abstand zueinander auftretenden Teiltöne lassen sich gewissermaßen als „Stützpfeiler“ auffassen, die ihrerseits ein stabiles, ordnendes Fundament bieten, auf dem sich unsere Hörerfahrung entwickeln kann. Zerlegt man ein Geräusch in seine einzelnen Bestandteile, finden sich eng nebeneinanderliegende Einzelereignisse, ohne regelmäßige Beziehung zueinander, die sich der Definition von Ordnung entziehen. Es ist meiner Ansicht nach wahrscheinlich und folgerichtig, dass ein Hörer diese wegen der fehlenden Symmetrien zueinander nicht automatisch als gehaltvoll auffassen würde, sofern er mit der Materie untervertraut ist. Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, wie sehr der geschickte Einsatz von Geräuschen eine Art von Atmosphäre erzeugen kann, die einen eigenen Charakter aufweisen kann, der mittels konventioneller Harmonik nicht zu erreichen wäre. Als anschauliches Beispiel möchte ich an dem Punkt „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann anführen: Der moderne Umgang mit klangerzeugenden Mitteln und Geräuschelementen hat eine intensive Wirkung auf mich entfaltet, die Kälte und das Klirren des Eises waren für mich nicht nur als Abbild oder als Teil einer Erzählung, zu der ich mich in einem artifiziellen Abstand befinde, erfahrbar; vielmehr hatte ich den Eindruck, selbst Teil der Szenerie zu sein und von Kälte und Eis unangenehm berührt zu werden. Das ist mit Sicherheit eine Intensität, die mit harmonischer Musik, die letztlich auf ästhetischen Gesichtspunkten beruht, nicht möglich gewesen. Wichtig dabei scheint mir, dass ein Geräuschelement grundsätzlich als natürlicher wahrgenommen wird, während ein auf Harmonien beruhendes Konzept automatisch eine Aura des Artifiziellen mit sich bringt, das den Hörer zu in einen passiven Modus bringt und auf einer anderen, nicht unmittelbaren Ebene funktioniert. In dem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Zitat eines mir flüchtigen bekannten Professors für Malerei: „Kunst kommt von künstlich“- es bestätigt sehr gut, dass die Wahrnehmung der Musik als etwas Kreatives, aber auch Unnatürliches, einen voreingenommenen Höreindruck mit sich bringt, der durch eine Geräuschwahrnehmung umgangen werden könnte.

Als ordnendes Prinzip in der Musik lässt sich die Obertonreihe postulieren; definierte, sich verkleinernde Abstände zwischen Teiltönen vermitteln ein gewisses Maß an Vorhersagbarkeit, die sich mathematischen Regeln unterwirft. Wenn wir im gleichen Zug die Mathematik als oberste Naturwissenschaft verstehen, die die Natur beschreibt, können wir hierbei wieder das in Zahlen ausgedrückte, ordnende Prinzip feststellen und daraus die empfundene Schönheit algorithmischer Strukturen erklären. Als anschauliches Beispiel können hierbei Abbildungen von Schneckenhäusern dienen, deren Spiralform in enger Beziehung zur Fibonacci-Zahlenfolge (gebildet durch jeweilige Addition der beiden vorherigen Zahlen) steht. Hieraus lässt sich wiederum ein häufiges Stilmittel in Malerei und bildender Kunst ableiten: Der goldene Schnitt als angestrebtes Symmetrieverhältnis, ein Teilungsverhältnis, bei dem das Verhältnis des Ganzen zu seinem größeren Teil dem Verhältnis des größeren zum kleineren Teil entspricht. Ebenso gibt es auch in der Musik Ansätze, z.B. durch Stockhausen oder Grisey, Stücke aus Fibonacci-Folgen aufzubauen

Wenn wir davon ausgehen, dass die Natur selbst eine Ordnung liefert, die wir intuitiv als ästhetisch begreifen, müssen wir gleichzeitig zugeben, dass dies auf andere Arten der Ordnung, die zwar in sich algorithmisch oder logisch sind, nicht unbedingt zutrifft. Musik des 21. Jahrhundert, z.B. ausgehend vom Serialismus, hat sich der Reihentechnik und formal durch Rechenoperationen nachvollziehbarer Abläufe bedient, ohne dass es einen Bezug zu einer naturgegebenen Anordnung gibt; möglicherweise ist das ein Hauptgrund dafür, dass solche Werke in ihrer Popularität der „klassischen populären“ Musik deutlich nachstehen. Gemeinsamkeiten zum oben erwähnten Geräuscherlebnis, das wir nicht automatisch mit Schönheit oder Ästhetik assoziieren, finden wir, meiner Ansicht nach, für einen ungeübten Hörer in abgeänderter Form hier wieder: Das nicht unmittelbar verständliche Konstruktionsprinzip und die damit nicht begreifbare Ordnung führt zu einer Empfindung, die sich nicht mit der üblichen ästhetischen Erfahrung deckt und eine Bewertung in eine Kategorie wie „Schönheit“ erschwert.

Hierbei stellt sich die interessante Frage, ob der bewusste Verzicht einer Ordnung im Rahmen einer Komposition, z.B. durch ausgeprägte interpretatorische Freiheiten, wie z.B. in Werken von John Cage, nicht selbst wieder als ordnendes Prinzip aufgefasst werden kann, welches, bei entsprechender Offenheit, ästhetisch erfahrbar wird. Ohne eine klare Antwort auf diese Frage anzuführen, lehrt sie jedoch sehr gut, dass, aus entsprechendem Blickwinkel und mit ausreichendem Abstand, wahrscheinlich bei jeder Art von künstlerischer Arbeit eine Art der Ordnung feststellbar sein kann. Sofern wir dies im Hinterkopf behalten, kann es als willkommene Hilfestellung dazu dienen, Werke, zu denen wir nur schwer Zugang finden, erfahrbar zu machen.


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