Das Stück „À deux mains“-Impromptu für Klavier (1995) von Mauricio Kagel präsentiert sich als
erfrischender Beitrag zur Neuen Musik der 90er Jahre. Im Folgenden sollen der formale Aufbau sowie
die motivische Behandlung des Werkes nachvollzogen werden.
„À deux mains“ besteht aus 156 Takten und ist mit einer Spieldauer von ca. 5:30 min angegeben, was
zumindest vom Untertitel „Impromptu für Klavier“ her gut zu bekannten Impromptus, z.B. von
Schubert oder Chopin passen würde. Auf den ersten Blick deutlich ins Auge fallen die sehr häufigen
Wechsel der Vortragsbezeichnungen, welche von „Allegretto“ mit einer Tempoangabe von ca. 104
bpm über „Presto“ und „Largo“ sehr unterschiedliche Tempi bedienen, wobei sich einzelne Wechsel
zum Teil nur über einen einzigen Takt erstrecken. Ebenso bemerkenswert ist die wechselvolle Abfolge
verschiedener Metrumangaben, welche neben üblichen Werten wie 2/4 auch etwas unüblichere
Angaben wir 5/8 umfasst.
Eine Gliederung in zwei Teile des Klavierstücks erscheint sinnvoll; bis inkl. Takt 90 erfolgt in einem
postulierten ersten Abschnitt die Entwicklung aus drei anfangs präsentierten Grundmotiven bis zur
Generalpause in Takt 90, ab ca. Takt 81 lässt sich sogar eine Art Coda vermuten. Dieser Zäsur folgt ab
Takt 91 die Arbeit mit ähnlichem motivischem Material, welches sich im weiteren Verlauf zu einem
eigenen Schlussteil entwickelt.
Der Anfang steht im 2/4-Takt, die ersten sechs Takte sind hauptsächlich geprägt vom Auftreten des
Kopfmotivs (A) im oberen Notensystem, welches eine Achtelnote, gefolgt von drei Sechzehnteltriolen
darstellt. Durch kontinuierliche harmonische Modulation mit sehr wechselnde Vorzeichen lässt sich
dementsprechend keine eindeutige Tonart feststellen; auffallend ist auch die Überschreibung mit
dreifachem „Piano“. Diesem ersten Element gegenübergestellt wird in der linken Hand eine
gegenläufige Figur (B), die aufsteigend aus einer Achtelnote, gefolgt von vier 32teln besteht und
ebenfalls harmonisch nicht eindeutig zu bestimmen ist.
Mit einem nur eintaktigen Metrumwechsel zu
3/8 im siebten Takt und einem abschließendem Bogen lässt sich bis hierhin eine erste
Gliederungseinheit im Sinne einer Phrase definieren. Dabei begegnet dem Hörer im unteren System
ein den ersten beiden Motiven konträres Element (C), das aus einer zunächst gehaltenen Note und
darauf folgendem Intervallsprung nach unten besteht.
Die nächsten vier Takte lassen sich als nächste,
allerdings sehr verkürzte Phrase auffassen; sie folgen einem sehr ähnlichen Schema und enden mit
einem 3/4tel-Metrum sowie der vorübergehenden Bezeichnung „Lento“ in Takt 11, alle drei Motive
erscheinen chronologisch in variierter Form. Auch in diesem Abschnitt bedient sich der Komponist
einer extremen Dynamikbezeichung mit vierfachem „Piano“.
Das bisher präsentierte Material wird ab Takt 12 in länger werdenden Sinnabschnitten verarbeitet,
bis in Takt 15 stehen Variationen der ersten beiden Motive im Vordergrund, wobei in Takt 18 Motiv C
im unteren System hinzukommt;
in Takt 21 zeigt sich ein dem der ersten Phrase sehr ähnliches Ende,
was sich auch hierbei im eintaktigen Metrumwechsel zu 3/8teln äußert. Gerade in der rechten Hand
bedient sich Kagel einer sehr differenzierten Dynamik mit feinen Abstufungen, des Weiteren finden
sich mehrfache Wechsel der Metrik, Spiel- sowie der Vortragsbezeichnungen. Dieses Prinzip zeigt sich
im kompletten weiteren Verlauf des Stückes und soll hier stellvertretend erwähnt werden. Bis Takt 24
dominiert vor allem eine Kombination der Elemente A und C, die schließlich in den mit „Presto“
überschriebenen Takt 26 münden. Im weiteren Verlauf zeigt sich bis inkl. Takt 34 eine Abfolge
triolischer und aus vier Sechzehntelnoten bestehender Elemente, die nacheinander von der rechten
und linkem Hand im Wechsel gespielt werden. Diese Passage lässt sich gut als Augmentation der
Motive A und B interpretieren, die sich bis zu einer Quintolenfigur in Takt 33 weiterentwickeln.
Ab
Takt 35 zeigt sich neben der Bezeichnung „Moderato“ vor allem in der linken Hand eine Variation der
Hauptmotive A und B, der Sinnabschnitt endet wieder im 3/8 Takt mit passender Fermate in Takt 39.
Der Folgetakt ist mit „Presto, ma poco meno di prima“ überschrieben, deutlich erinnert die Passage im
unteren System an die beschriebene Triolenaugmentation des Kopfmotives aus Takt 26, welche jetzt
allerdings eine eindeutig eher begleitende Funktion einnimmt, während sich die rechte Hand als
Kombination der Motive B und C deuten lässt. Dieser Abschnitt endet mit einem einmaligen
Metrumwechseln zu 2/4 in Takt 49.
Der folgende Takt 50, mit „Moderato“ überschrieben, fokussiert sich wiederum auf Variationen der
Motive A und B, es kommt zu einer Weiterentwicklung in Form von Sechzehnteltriolen und –sextolen
vor allem in der rechten Hand, Motiv B in der linken Hand ist deutlich erkennbar. Ab ca. Takt 59 rückt
Motiv B in der Oberstimme mehr in den Vordergrund,
und wird außerdem dynamisch ansteigend
präsentiert, was in Takt 62 in einem dreifachen „Forte“ kulminiert. Dieser Sinnabschnitt schließt
erneut im 3/8-Metrum in Takt 63. Ab diesem Zeitpunkt, welcher mit „Andantino“ überschrieben ist,
zeigt sich die Gegenüberstellung von Neuntolen und Quintolen. Eine Deutung als Abwandlung von
Motiv A bzw. Weiterentwicklung der Strukturen ab Takt 25 wäre grundsätzlich denkbar, allerdings ist
der Ursprung hierbei schon stark verfremdet und nur noch entfernt nachzuvollziehen. Weil sich in
Takt 82 eine Art Coda anschließt, erscheint der Gedanke einer ausgiebigen Verarbeitung im Sinne
einer „Durchführung“ dennoch plausibel, sofern man einen sonatenhaften Einfluss auf die
Komposition annimmt. Takt 82 ist mit „Grave“ überschrieben und führt über triolische Elemente, bzw.
länger ausgehaltene Noten sowie abnehmende Dynamik in einzelnen Achtelnoten (D) zur
Generalpause in Takt 90 und somit zum Ende des postulierten ersten Hauptabschnittes des
Klavierstücks.
Takt 91 ist mit „Allegretto“ überschrieben und steht im 2/4-Metrum, was an die erste Phrase erinnert
und daher gut als Beginn eines zweiten Großabschnittes gedeutet werden kann. Das jetzt dargestellte
Material aus Sextolen und Quintolen erinnert zunächst an vorhergehende Abschnitte bzw.
Weiterentwicklungen der Motive A und B, wird jedoch in Takt 94 durch Achtelnoten unterbrochen,
die sehr an die eben beschriebene Coda erinnern. Sowohl in Takt 93 als auch 95 kommt es zu einer
Zäsur durch einen Metrumwechsel zu 5/8 und dem Auftreten einer entfernt an Motiv C erinnernden
Struktur.
Ab Takt 97 zeigt sich eine beginnende Verfremdung der Elemente der Takte 91 und 92; diese werden
rhythmisch, dynamisch und harmonisch variiert, begleitend von häufigen Wechseln des Metrums.
Während zunächst die Neuntolen dominieren, wandeln sich diese ab Takt 104 in Quintolen bzw.
Septolen ab Takt 106. Das hierbei auftretende Element in der rechten Hand zeigt wiederum starke
Bezüge zu Motiv A. Ab Takt 114 eröffnet sich ein neuer Sinnabschnitt im 3/8tel-Takt, die hierbei im
Fortissimo präsentierten Sechzehntelnoten lassen sich gut als Variation des Motiv D aus der Coda und
aus Takt 94 deuten.
Ab Takt 122, mit „Moderato“ überschrieben, imponiert in der rechten Hand eine
tonleiterartige Folge von 64tel-Noten, die in den folgenden Takten variiert wird und an eine Passage
aus dem Impromptu op. 142 Nr. 4 von Franz Schubert erinnert, sich aber ebenso als von Motiv B
abgeleitet deuten lässt und diesem ab Takt 128 immer ähnlicher wird. Die linke Hand wird ab Takt
122 in Achtel-und Sechzehntelnoten, die vor allem an Motiv D erinnern weitergeführt und treten ab
Takt 128, sehr ähnlich zu Takt 113, orgelpunktartig auf. Beide Stimmen münden ab Takt 131 in einen
länger gehaltenen Klang, was sich als Beginn einer erneuten Coda deuten lässt, welche sich ab Takt
141 mit der Bezeichnung „Largo“ und dem Auftreten von Motiv D, ganz ähnlich zu Takt 88 und somit
dem Ende des ersten Hauptabschnitts, abzeichnet. Mit dezent absteigender Dynamik und einer genau
bezeichneten Pedalbehandlung findet das Stück somit seinen Ausklang.
Der insgesamt improvisiert wirkende Gestus des Werkes passt grundsätzlich gut zur Bezeichnung
„Impromptu“, außerdem war Mauricio Kagel bekannt für seine teils humorvoll und dabei kritisch
konzipierten Werke. Die sehr häufig wechselnden Vortragsbezeichnungen sowie Taktarten lassen die
Frage aufkommen, ob das Stück ursprünglich als Ganzes konzipiert war, oder sich möglicherweise
eher spontan erschlossen hat. Gleichzeitig könnte man daraus auch eine Kritik konstruieren, die den
Interpreten darauf aufmerksam macht, wie eine vermeintlich bekannte Form eine „Impromptus“
durch geschicktes Anwenden althergebrachter Mittel doch auch noch etwas Unerwartetes bieten
kann.