compositi.one

Analyse von G. Ligeti: Etüde für Klavier Nr. 18 „Kanon“

Die Komposition von Klavieretüden kann im europäischen Raum auf eine lange Tradition zurückblicken und war im Laufe der Jahrhunderte einem stetigen Wandel unterworfen. Nach einer kurzen historischen Übersicht als Einführung, soll im Folgenden eine Analyse der 18. Klavieretüde von G. Ligeti dargestellt und sowohl in den zeitlichen als auch kompositorischen Kontext eingeordnet werden.
Das Wort „Etüde“ entstammt dem Französischen und bezeichnet wörtlich ein Stück, das die Fertigkeiten eines Spielers auf dem Instrument verbessern soll, wobei jeder Etüde eine spezielle Art von spieltechnischem Problem zugeordnet wurde . Ausgehend vom Barockzeitalter, nutzte beispielsweise J.S. Bach das Format, um die Fingerfertigkeit beim Üben zwei- oder dreistimmiger Abschnitte zu schulen. Dem gegenüber war der musikalische Gehalt zu dieser Zeit deutlich untergeordnet, eine öffentliche Aufführung solcher Stücke im Rahmen eines Konzertes fand normalerweise nicht statt.
Im Zuge schrittweiser Veränderungen über die nächsten Dekaden lässt sich eine Evolution der Etüde beobachten; der Anspruch an Kunstfertigkeit und kompositorischem Einfallsreichtum nahm sukzessive zu, sodass sich die Etüde allmählich zu einer eigenen Kunstform etablierte. Bedeutende Beiträge im 19. Jahrhundert lieferten beispielsweise C. Czerny, Hummel oder Clementi.
Einen historischen Wendepunkt stellten die Werke von Chopin und Liszt dar; diese waren von Beginn an für die konzertante Aufführung konzipiert und verbanden Virtuosität mit fortgeschrittener Kompositionstechnik, was sich zunächst ohne Unterbrechung bis ins 20. Jahrhundert fortsetzte, teils jedoch, vor allem wegen des Verlassens der traditionellen Tonalität, an Bedeutung verlor. Bisher verwendete Stilmittel wie Arpeggios, gebrochene Akkorde oder Oktavierungen waren mit der aufkommenden 12-Ton-Technik nicht mehr vereinbar, sodass eine andere Herangehensweise nötig wurde.
Die Einordnung der Klavieretüden von G. Ligeti kann somit zunächst als Fortsetzung einer Tradition verstanden werden, die jedoch mit völlig neuen Ideen und musikalischen Konzepten einherging, an denen Ligeti seit den 1950er Jahren arbeitete. Der Komponist zeigte zunächst eine eigenwillige Entwicklung auf, die relativ unabhängig von anderen Strömungen, wie z.B. dem Serialismus stattfand. Stattdessen beschäftigte er sich mit Polyrhythmik, afrikanischen Rhythmen, Klangflächen und Mikropolyphonie. Die Komposition der 18 Klavieretüden erfolgte auch aus dem Bestreben heraus, die mangelnde eigene pianistische Technik durch hochwertige Klavierwerke zu kompensieren. Ligeti stellte sich Klangräume vor, in dem er seine Hände auf die Tasten legte und das erwünschte Resultat anschließend notierte. Diese taktile bzw. haptische Verbindung des Komponisten zu dem Instrument ist ein völlig anderer Ansatz als der des komponierenden Pianisten, der vor allem seine technischen Fertigkeiten auf das Klavier überträgt. Die Kehrseite dieses Konzeptes mag hierbei in der schwierigen Umsetzbarkeit liegen.

Die 18. Klavieretüde mit dem Untertitel „Kanon“ entstand 2001 als Auftragsarbeit des Wiener Konzerthauses und ist Fabienne Wyler gewidmet; die Aufführungsdauer beträgt ca. 1,5 min. Sie besteht aus zwei freitonalen Abschnitten, von denen der erste zunächst mit „Vivace poco rubato“ überschrieben ist, bei der Wiederholung jedoch „Prestissimo“ gespielt werden soll.

Diese Spielanweisungen werden in einer Fußnote genauer spezifiziert. Der zweite Abschnitt ist mit „Lento con tenerezza“ überschrieben und deutlich kürzer.


Wie bei den meisten Etüden, verwendet der Komponist keine Taktstriche, sodass sich diese Unterteilung am Wiederholungszeichen anbietet. Dieses wird auch rein optisch dadurch gestärkt, dass der postulierte erste Abschnitt ausschließlich aus Achtelnoten besteht, die sehr häufig an eine Quintenführung angelehnt sind.

Im zweiten Abschnitt hingegen gibt es nur halbe Noten und einen abschließenden A-Moll-Akkord in ganzen Noten, was den Eindruck einer Coda erweckt. Der erwähnte Schlussakkord ist keinesfalls tonal zu verstehen, vielleicht stellt er sogar etwas Selbstironie dar (im Horntrio gibt es z.B. einen kurzen Moment, der der Klaviersonate „Les Adieux“ von L.v. Beethoven entlehnt ist). Ein Metrum ist nicht notiert.


Das Stück beginnt mit in der rechten Hand mit einer Tonreihe aus 185 Elementen, zunächst einer Abfolge parallel geführter Quinten, die allmählich in der Klaviatur aufsteigen und gelegentlich auch andere Intervalle bzw. Einzeltöne bieten. Insgesamt entziehen sich die Strukturen einer harmonischen Deutung. Die linke Hand setzt, nach einer Viertelpause, mit derselben Reihe in tieferer Lage ein; dieses „kanonische“ Prinzip erklärt den Untertitel der Etüde. Beide Stimmen sind mit „piano“ und „dolce“ überschrieben, sollen außerdem „so legato wie möglich“ gespielt werden.

Im Verlauf der Reihe kommt es zu einer deutlichen differenzierteren Dynamikbehandlung, laute und leise Töne wechseln sich ab, bis der Klimax am Ende des ersten Hauptabschnittes mit einem Crescendo, das in fünffachem „Forte“ endet, erreicht wird.
Es ist bemerkenswert, wie das Material dadurch einen komplett neuen Charakter entwickelt; während anfangs eine unstete, unruhige Atmosphäre dominiert, entstehen nun Klangaspekte, die sich durchaus mikropolyphonisch hören lassen. Man kann sich gut vorstellen, wie der Komponist diese Strukturen durch Auflegen der Hände entwickelt hat und kein tonales Konzept im Hinterkopf hatte. Hierzu passt auch die fehlende Angabe zum Metrum, die wechselhafte sowie synkopierte Rhythmik erweckt eine gewisse improvisatorische Atmosphäre und erinnert an andere Werke Ligetis. Die kanonische Abfolge führt zusätzlich dazu, dass bereits Gehörtes wieder auftaucht, bzw. sich sukzessive verändert. Die Wiederholung des ersten Abschnitts beginnt mit der Bezeichnung „attaca subito“, wodurch sich eine erhebliche Kontrastwirkung ergibt.
Der postulierte zweite Teil der Etüde besteht aus einer Reihe von elf akkordartigen Klangschichtungen in der rechten Hand, bzw. zehn in der linken Hand. Ähnlich dem ersten Teil, steigen die Folgen allmählich an, weisen jedoch, wegen des deutlich langsameren Tempos, einen ganz anderen, eher nachdenklichen Charakter auf. Dieses wird durch die Beschreibung mit dreifachem „Piano“ noch zusätzlich untermauert. Dazu wird ein Pedalwechsel nach jedem Klang gefordert. Der Komponist scheint diesen codaartigen Abschnitt bewusst als Ruhepol konzipiert zu haben, etwas selbstironisch endet die Etüde in dem A-Moll-Akkord (s.o.). Eine harmonische Deutung an dieser Stelle erscheint nicht sinnvoll, selbst wenn man theoretisch an einigen Stellen Akkorde definieren könnte.
Insgesamt ist es bemerkenswert, wie G. Ligeti in der Kürze der Aufführungsdauer ein so komplexes und vielschichtiges Werk komponieren konnte, das auch nach mehrfachem Hören neue Details offenbart; ein deutlicher Hinweis auf seine herausragende Stellung bezüglich der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Bezüge zu freier Rhythmik und mikropolyphonem Denken sind deutlich; für mich stellt das Werk eine sehr kompakte Reminiszenz des gesamten kompositorischen Entwicklungsprozesses des Komponisten dar.


©ompositi.one | Datenschutzerklärung