Das Klavierstück op. 11 Nr. 2, komponiert von Arnold Schönberg, entstammt dem 1909 publizierten Zyklus „Drei Klavierstücke“, welcher als eines der ersten atonalen Werke des Komponisten gilt. Speziell das erste Stück daraus wurde bereits häufigen Analysen unterzogen und ist dementsprechend gut untersucht; das zweite hingegen, welches hier behandelt werden soll, war bisher deutlich seltener Gegenstand musikwissenschaftlicher Forschung.
Es besteht aus 66 Takten und ist mit „mäßige Achtelnoten“ überschrieben, als Taktart sind zunächst 12/8 angegeben, welche im Verlauf einige Male zu 4/4 wechselt. Eine Gliederung in vier Teile lässt sich wie folgt vornehmen: Takt 1 bis Takt 13 als eine Art Exposition mit Generalpause und Ritardando (A), bis Takt 30 eine Variation des ersten Teils (A‘); anschließend ein größerer Mittelteil mit Verarbeitung des Materials im Sinne einer Durchführung bis Takt 54, um dann in einer Art Reprise mit Coda zu enden, die das Material des Anfang wieder aufnimmt. Diese an der klassischen Sonatenform orientierte Aufteilung entspricht, neben der Deutung im Notentext, auch meinem Höreindruck und dem mutmaßlichen Bestreben des Komponisten, dem Stück eine abgeschlossene Form zu geben. Dies passt wiederum gut zur der Ansicht, dass Arnold Schönberg sich an späten Klavierstücken Brahms` orientiert haben mag. Des Weiteren fällt auf, wie genau Spielanweisungen im Notentext aufgeführt sind, neben extremen Dynamikbezeichnungen wie vierfaches Pianissimo gibt es Taktüberschriften wie „fließender“ oder „etwas flüchtiger“, die uns auch in späteren Klavierwerken wieder begegnen. Meiner Ansicht nach kann die spätere Arbeit Schönbergs in diesem Zyklus bereits erahnt werden, so dass er auch als Wendepunkt hin zu einem eigenen musikalischen Stil gelten kann.
Zu Beginn präsentiert der Komponist in der linken Hand ein Motiv in tiefer Lage, das aus einer kleiner Terz besteht, an d-Moll erinnert, und sich ostinatoartig über weite Teile des Werks bewegt; quasi als Orgelpunkt tritt jeweils ein noch tieferer, übergebundener Ton hinzu.
Mit „Pianissimo“ überschrieben, hat es zunächst eine begleitende Funktion (Nebenmotiv); ab Takt 2 kommt in der rechten Hand ein weiteres Motiv (Hauptmotiv) hinzu, das, mit derselben Dynamik bezeichnet, aus mehreren sowohl auf- als auch abwärts gerichteten Intervallsprüngen besteht; häufig auch im Tritonus oder Nachbarintervallen.
Dadurch ergibt sich eine sehr offener Tonraum mit Klängen, die trotzdem durch ähnliche Intervalle miteinander verbunden sind. Meiner Ansicht nach versucht der Komponist an diesen Stellen, die Bewegung als solche in den Vordergrund zu stellen, jedoch weniger die ihr zugeordneten Töne. Auch hierbei zeigt sich ein gänzlich neues Denken über Ausdruck und musikalische Gestaltungsmittel.
Eine harmonische Deutung dieser beiden Töne stößt schnell an ihre Grenzen. Die im Hauptmotiv verwendeten Töne lassen sich analytisch kaum mit einem d-Moll-Akkord vereinbaren, sondern würden in eine ganz andere Richtung weisen. Daher erscheint eine akkordische Deutung zumindest fraglich, eine Analyse mittels „pitch classes“ erscheint mir ad hoc sinnvoller. Lässt man diese Einwände zunächst unbeachtet, ließe sich, inklusiver enharmonischer Verwechselungen, in der rechten Hand (Hauptmotiv) z.B. eine Richtung nach B-Moll konstruieren; somit würde man gleichzeitig eine Polytonalität implizieren. Dieses jedoch scheint nicht gerade die Absicht des Komponisten zu sein, welcher sich auf der Suche nach von Tonalität gelösten neuen Ausdrucksmöglichkeiten befand. Vereinzelte Stellen, die eine tonale Deutung prinzipiell zulassen, sollen trotzdem benannt werden.
Ab Takt 4 wird dieses Hauptmotiv mit Doppelnoten in Achtelketten weiterentwickelt und erscheint in den nächsten Takten als Kombination von Achtel- und Viertelnoten; es entsteht ein eindeutiger rhythmischer Bezug zur Begleitung in der linken Hand, welcher durch ein Auf- und Abschwellen mit „Crescendo“ und „Decrescendo“ verstärkt wird.
Speziell in Takt 4 scheint die Oberstimme auf D-Dur oder A-dur hinzudeuten. In Takt 8 tauchen sogar ein e-Moll- und f-Moll-Akkord auf;
in Takt 11 und 12 gibt es mehrere Strukturen, die auch akkordisch in verschiedene Richtungen gedeutet werden könnten.
Über ein „Ritardando“ in Takt 9 wird eine allmählich ruhigere Bewegung in größeren Notenwerten initiiert, die schlussendlich in Takt 13 auf einer Fermate und der Generalpause endet; der dabei entstehende und lang ausgehaltene Klang ist so weit aufgefächert, dass er mir wie eine Synopsis bzw. Verschmelzung der beiden vorherigen Takte erscheint und entfernt an g-Moll erinnert.
Fast durchweg sind Legato-Bögen notiert.
Die nächsten drei Takte sind sehr stark dem Anfang angelehnt; im Vordergrund steht erneut der Kontrast zwischen dem Haupt- und dem Nebenmotiv, wieder sehen wir eine thematische Verbindung und Verarbeitung beider Elemente durch Achtelketten; die Überschreibung mit „fließender“ in Takt 16 löst die etwas statische Grundstimmung des Anfangs ab. Dazu passen sehr gut die Achtelbewegungen in der linken Hand, die sehr an gebrochene Akkorde erinnern und eventuell an spätromantische Klavierwerke, wie z.B. von Chopin anspielen; eine entfernte Anlehnung an B-Dur oder G-Moll kann postuliert werden und wird teilweise von der rechten Hand gestützt.
Harmonisch Vereinzelt kommen Sechzehntelnoten hinzu, in der linken Hand tauchen chromatische Wechsel im Sekundabstand auf. Trotz der motivischen Verzahnung bleibt eine klare Trennung zwischen Begleitung und „Melodiestimme“ erhalten, was sich durch erneute Ausdifferenzierung mittels Dynamikbezeichnungen ersehen lässt. In Takt 18 gibt es eine identische Wiederholung der Akkordbrechung aus Takt 16, daher vermute ich, dass diese aufsteigende Geste mit diesen genau definierten Tönen eine besondere Relevanz für den Komponisten gehabt muss. Mittels eines „Ritardando“ am Ende vom Takt 19 lässt sich dieser Sinnabschnitt in einer kurzen Generalpause beenden; ab Takt 20 wird das Nebenmotiv in der linken Hand aufgegriffen, diesmal in höherer Lage als zu Beginn, und mit tief alterierten Anteilen des Hauptmotivs verknüpft., wobei sich beide Hände in den System abwechseln. Die Bezeichnung „immer legato“ in Takt 23 verdeutlicht hierbei, wie wichtig Schönberg hierbei ist, die Verkürzung von Notenwerten nicht mit einem anderen Anschlag gleichzusetzen, auch bei abweichenden Dynamikbezeichnungen. Das Nebenmotiv strebt in einer Bewegung mit Achtelketten abwärts, die dortigen Sprünge weisen für mich einen eindeutigen Bezug zum Hauptmotiv der ersten Takte auf. In Takt 26 fallen besonders ausdifferenzierte dynamische Abstufungen bis hin zu vierfachem „piano“ auf, die mittels 32tel-Noten eine besondere Nuance erhalten.
In Takt 29 steht abermals eine Generalpause, außerdem kommt es zu einem Wechsel in einen 4/4-Takt, jedoch nur bis Takt 30. Diese kompakte Passage erinnert sehr an den oben beschriebenen Auszug von Takt 11-13, jedoch in sehr verkürzter Form; die Idee, so einen Abschnittswechsel einzuleiten, ist offensichtlich; durch die veränderte Taktart wird eine zusätzliche Zäsur geschaffen. Das Prinzip, einen Umbruch nach einer Generalpause einsetzen zu lassen, begegnet uns grundsätzlich öfter in dieser Komposition. In Takt 31 wechselt die Taktart erneut zu 12/8; der oben postulierte Abschnitt A` als Variation des Teils A endet und geht über in den großen Mittelteil, der einer Durchführung ähnlich ist. Mit „etwas flüchtiger“ überschrieben, wird ein Gegensatz zum vorhergehenden Abschnitt geschaffen;fallende Passagen in beiden Händen scheinen aus vorherigen Takten abgeleitet (z.B. aus Takt 17 und 19), die Trennung von Begleitung und Melodiestimme wird aufgehoben, es ergibt sich ein flüchtiger, teils clusterhafter Gesamteindruck, immer wieder unterbrochen von kurzen, ruhigeren Passagen, in denen die rechte Hand häufig dem Hauptmotiv entlehnt ist;
in Takt 38 zeigt sich erneut eine codaähnliche Passage, die einen Sinnabschnitt enden lässt und an die Takte 30 und 11-13 erinnert.
Nach einer erneuten Generalpause zu Beginn von Takt 39 werden, wieder im 12/8-Takt, vorwiegend 16tel- und Achtelnoten gegenübergestellt; wobei dieser Abschnitt einen etwas „zerfahrenen“ Eindruck macht, außerdem wird der Einsatz von Dämpfern vorgeschrieben.. Im Gegensatz zu vorherigen Anteilen gestaltet sich die motivische Arbeit ab nun dichter und intensiver; es dominieren eher sehr punktuelle Elemente und teilweise starke Kontraste in der Dynamik. Insgesamt ergibt sich der starke Eindruck einer virtuosen Kadenz, die gut zu einem Klavierkonzert passen würde; die Oberstimme zeigt eine starke Aufwärtstendenz und mündet in einer Trillerfigur über mehrere Takte, begleitet von Figuren im Fortissimo in der linken Hand, um am Ende von Takt 47 ganz alleine zu erklingen.
Gemäß einem gedachten Spannungsbogen erreicht das Klavierstück hiermit seinen Höhepunkt und persifliert dabei ironisch den Eindruck einer klassisch-virtuosen Komposition.
Anschließend kommt es zu einer allmählichen Beruhigung, sowohl was die Dynamik als auch die Notenwerte angeht, bis in Takt 55 der reprisenartige Schlussteil beginnt.
Der Anfang des Stücks wird hierbei zitiert und leicht variiert; ab Takt 66 findet sich eine Art Coda, die noch einmal ganz kurz an den Durchführungsteil erinnert und schließlich zum Ende führt. Die linke Hand bleibt auf einem sehr tiefen „Es“ stehen, in der rechten Hand findet sich eine Schichtung aus reiner Quarte und Tritonus; eine nicht zu übersehende Verwandtschaft zum Beginn des Hauptmotivs.
Die inneren Bezüge in dieser Komposition sind zahlreich und können jeweils nur angerissen werden, ebenso bieten sich mehrere mögliche Deutungsrichtungen, sowohl was die Harmonik, als auch eine mögliche Aussageabsicht des Komponisten angeht. Die sehr detaillierte Entwicklung des Anfangs hin zu einem der Sonatenform angelehnten Konzept zeigt deutlich, wie sehr Arnold Schönberg sich der Tradition bewusst war und konkret nach Wegen gesucht hat, mit dieser zu brechen, was sich vor allem auf harmonischer Ebene vollzieht. Gleichzeitig wird versucht, jedes einzelne Klangereignis für sich relevant zu machen, in dem Dynamiken und Ausdruck möglichst genau beschrieben werden; hierbei wird die spätromantische Notation erweitert und letztendlich übertroffen. Wenn man sich retrospektiv die weitere Entwicklung Schönbergs‘ zu Atonalität und Zwölftonmusik vor Augen hält, erscheint dieses Art von Denken umso logischer. Die Rolle der Rhythmik mit ihren wechselnden Taktarten kann diesen Anspruch ergänzen; durch abweichende Akzentuierung können bereits bekannte Strukturen interpretatorisch in ein „neues Licht“ gerückt werden, bzw. von anderer Seite dargestellt werden. Konkret zeigt dieses, wie ein Material in verändertem Kontext interessant bleiben kann; dies geschieht sogar ohne „rhythmische Extreme“. Die Verwendung von Generalpausen am Ende rhythmischer Einheiten könnte darauf hindeuten, dass der Komponist eine ungefähre Vorstellung eines Abschnitts hatte, die er anschließend auskomponiert hat. Dies widerspricht gänzlich dem klassischen, melodischen Komponieren mit der Weiterentwicklung sanglicher Elemente.
Für mich sehr interessant und spannend gestaltet sich die Frage, inwieweit sich das Komponieren möglicherweise aus einer Art Improvisation unter Verwendung definierten Materials ergeben hat; während der Anfang mit zwei klaren, eindeutigen motivischen Ideen aufwartet, halte ich es für denkbar, dass im weiteren Verlauf einzelne, kurze Elemente aus einem spontanen Moment am Klavier entstanden sind. Gelegentlich fühle ich mich an Jazzsounds erinnert, was gut zu diesem Eindruck passen würde. Die Frage, ob eine Improvisation nicht als eine eigene Art des Komponierens im Moment aufgefasst werden kann, ist sicherlich strittig; vermutlich bieten sich gerade dadurch auch Freiheiten, während man sonst in seinem Denken vielleicht unterbewusst eher Regeln und Zwängen unterworfen ist. Deswegen gehe ich davon aus, dass dieser Aspekt den Komponisten maßgeblich beschäftigt hat, auf dem Weg zur Reihentechnik hat er sicherlich eine zentrale Rolle gespielt.
Die kurz erwähnten, extremen Dynamikbezeichnungen wie das vierfache „Piano“ sollten grundsätzlich immer in ihrer Machbarkeit hinterfragt werden; eventuell sollen sie eher als Denkanstoß dienen, als dass sie wirklich eine extrem geringe Lautstärke repräsentieren. Gerade deswegen kann man sie als gedanklichen Vorgriff auf elektronische Mittel verstehen, dies zu Schönbergs` Zeiten noch nicht verfügbar waenr, aber sehr willkommen gewesen wären.
Insgesamt sehr beeindruckend erlebe ich, wie der Komponist in diesen nur 66 Takten eine Vielzahl von Details präsentiert, deren Gehalt sich erst beim mehrfachen Hören und, vor allem, beim Studieren des Notentextes erschließt. Von einem unbedarften Hörer kann weder erwartet werden, dies in Gänze nur akustisch zu erfassen, noch eine mögliche Aussageabsicht zu vermuten. Daher liegt für mich der Schluss nahe, dass für Arnold Schönberg das Analysieren, Hören und Komponieren untrennbar miteinander verbunden waren und dass jedes einzelne Werk auch immer unter einem edukativen Charakter betrachtet werden sollte.